
Sauer hat Saison
Belgien ist so etwas wie das Zauberland der Bierkultur, hier gibt es unendlich viele, teils fast vergessene Bierstile, die gerade wieder entdeckt werden. Und bei solchen wie Lambic und Geuze meint man sich dem Wein näher als dem Bier.
Text von Florian Holzer Foto www.flickr.com/photos/visitflanders
India Pale Ale, Stout, Porter, Red Ale, das waren bisher die Klassiker und Zugpferde der Craft-Beer-Szene, und sie waren in ihrer kräftig gebrauten, bitter-fruchtigen Hopfigkeit so erfolgreich, dass längst auch traditionelle und sogar große Brauereien auf den Boom dieser Bier-Typen aufsprangen. Das mag einer der Gründe sein, warum sich kleine Newcomer- und Kreativbrauereien verstärkt nach neuen Experimentierfeldern umsehen, natürlich aber auch, weil die Innovation, das Experiment, die Erforschung neuer alter Bierstile nun einmal das grundlegende Charaktermerkmal der meisten Craft-Beer-Brauereien ist. New England IPA ist das eine, das bei den Kreativbrauern gerade die Runde macht, extrem trübe, extrem stark gehopfte India Pale Ales, die bei Bewertungen in jüngster Zeit die obersten Plätze abräumten. Und dann ist da aber auch eine Tendenz festzustellen, die ein bisschen weg von den immer alkohol-stärkeren, immer noch hopfigeren Interpretationen angloamerikanischer Bierstile geht, hin zu Bieren, die man auch wieder wirklich trinken kann. Session IPAs, zum Beispiel, leichter eingebraute, immer noch sehr hopfige helle Ales mit weniger als fünf Prozent Alkohol, die sich am traditionellen belgischen Sommerbier Saison orientieren.
Womit wir schon beim weiten Feld der belgischen Bierstile wären, die da schön langsam, aber unaufhaltsam in Österreichs Craft-Beer-Szene einsickern. Die Trappisten-Biere des Stifts Engelszell, zum Beispiel, die Hofstetten-Braumeister Peter Krammer seit 2014 in Österreichs einzigem Trappisten-Kloster und nach Vorbild der starken belgischen Abtei-Biere braut, die in ihrer Vervielfältigung aber naturgemäß – Trappisten-Biere dürfen nur in Trappisten-Klöstern gebraut werden – eingeschränkt sind. Häufiger sind es aber die sogenannten Blondes, die relativ leichten, hellen, obergärigen Alltagsbiere Belgiens mit ihren deutlichen Hefearomen. Raf Toté, ein 2015 nach Wien übersiedelter Microsoft-Manager aus Belgien, der in der Badewanne zu brauen begann und seit einem Jahr unter dem Namen „Der Belgier“ die Bierherstellung hauptberuflich betreibt, braut ein Strong Blonde sogar exklusiv fürs Steirereck. Gemeinsam mit Sommelier René Antrag suchte man die aromagebenden Gewürze dafür aus, entschied sich für Fingerlimette und Agastache alias Duftnessel, was ein kräuterwürziges, anregend bitteres Bier mit leichter Zitrussäure ergab.
Gewürze, Säure, Früchte, und da sind wir dann schon sehr in Belgien. Wit-Biere, also cremige, mehr oder weniger helle Weizenbiere, die traditionell mit Korianderkörnern und Orangenschalen eingebraut werden, zählten beim vergangenen Craft-Beer-Festival in der Wiener Marx-Halle fast schon zum Standard, wie Früchte und Gewürze in der Craft-Beer-Welt der näheren Zukunft wohl auch noch auf andere Bierstile übergreifen werden, wie’s aussieht.
Die ganz hohe Schule des belgischen Bierbrauens aber ist das Geuze. Geuze ist ein Bier, das so schwer herzustellen, so sehr vom Terroir des Sennetals – die Senne ist ein Bächlein durch Brüssel – abhängig ist und dessen wirklich extravaganter Geschmack so wenig mit den Trinkgewohnheiten der vergangenen Jahrzehnte konvenierte, dass es fast völlig von der Bildfläche verschwunden ist. Geuze ist nämlich nicht nur sauer, es ist mitunter irrsinnig sauer.
Basis des Geuze ist das Lambic-Bier, beziehungsweise Lambiek, Flandern ist schließlich zweisprachig: Hierbei handelt es sich um eine Art Ur-Bier aus zumeist in gusseisernen Bottichen gekochter Bierwürze aus Gerstenmalz, ungemälztem Weizen, Wasser und relativ wenig Hopfen, das in weite Wannen unter den Dachboden gepumpt wird, wo es sich mit wilden Hefen der Gattung Brettanomyces bruxellensis und Brettanomyces lambicus infiziert, danach in große Holzfässer kommt, wo es im Idealfall seine alkoholische Gärung sowie eine Milchsäuregärung durchmacht. „Aber beim Lambic weißt du in Wirklichkeit nie genau, wie lange das braucht“, sagt Gert Christiaens, ein ehemaliger Telekom-Manager, der 2005 Oud Beersel, eine der ältesten Geuze-Brauereien, wiedereröffnete und Geuze-Braumeister wurde. Bei seiner Braumeisterausbildung, die er nachträglich machte, lernte er von Lambic, Geuze und der Spontangärung beim Bier natürlich konkret gar nichts, Lambic galt als zumindest vorgestrig, unkontrollierbar, rustikal, billig und seltsam, „als Bier, das früher einmal die uralten Leute tranken“. Je länger diese Lambic-Biere in den Fässern bleiben, desto saurer werden sie übrigens. „Die Holzfässer müssen wirklich fit sein, es handelt sich hier um Mikrooxidation, und mit zu viel Luft wird ein Lambic schlicht und ergreifend zu Essig“, erklärt Gert Christiaens. Und zwar nicht gerade zum besten Essig, Essigsäure mischt sich da mit Milchsäure, das kann mitunter wirklich schräg werden. Und um diese fragilen, unberechenbaren Sauerbiere irgendwie konservieren und vor allem transportieren zu können, wurde irgendwann Anfang des 19. Jahrhunderts das Geuze erfunden, für das ein mindestens dreijähriges (und damit höchstwahrscheinlich durchvergorenes) Lambic mit einem noch jungen Lambic verschnitten und in Flaschen gefüllt wird, wo es fertig vergären und dabei auch noch ein bisschen Kohlensäure bekommen soll. Die unterschiedlichen Charaktere der einzelnen Fässer können so – wie beim Wein – ein bisschen nivelliert werden. Und weil man auch nie so ganz genau weiß, was sich in der Flasche so alles abspielt, wird Geuze sicherheitshalber mit Champagnerkorken und Agraffe verschlossen.
Eine andere, etwas populärere Verwendung der spontan vergorenen Fassbiere ist übrigens das Kriek, das traditionelle Sauerkirschbier, für das dem Lambic auch noch Weichseln zugesetzt werden – in den besonders traditionellen Betrieben im Fass, was zu noch weiteren, sagenhaften Fehltönen führen kann, in modernen, sauber arbeitenden Häusern wie Oud Beersel in Edelstahltanks. Diese Kirschbiere wurden nach dem Krieg in Belgien immerhin so populär, dass im Laufe der Jahre mit immer mehr Zucker und immer mehr Fruchtsirup gearbeitet wurde. Um traditionell hergestellte Fruchtbiere von industriellen Pseudo-Kracherln unterscheiden zu können, einigte man sich vor ein paar Jahren dann darauf, die wilden, traditionellen Biere Oude Kriek („Altes Kriek“) zu nennen. Und um die Versorgung mit den richtigen, echten Sauerkirschen sicherstellen zu können, hat Gert Christiaens jüngst ein paar Reihen Sauerkirschen der typischen belgischen Sorte Schaarbeekse gepflanzt.
„Zwei Generationen tranken kein Geuze mehr“, weiß Gert Christiaens, und zwar nicht nur, weil es den Leuten nicht mehr schmeckte, sondern auch, weil die Regierung wenig Interesse an den bäuerlichen Essigbier-Brauereien in den Vorstädten Brüssels hatte – es wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sogar Schließungsprämien gezahlt. Anderen Brauereien wurden die beiden Weltkriege und deren Bedarf an Eisen zum Verhängnis, ausschlaggebend für den Niedergang der Lambic-basierten Biere war aber vor allem die Popularität der Pilsner Biere nach dem Krieg – industriell herzustellen, leicht zu vermarkten und exportierbar. Von den bis zu 400 Lambic- und Geuze-Brauereien hat heute nur mehr ein Dutzend überlebt.
Aber wie kann die Spontangärung dieser Ur-Biere überhaupt noch funktionieren? Die Senne galt bis vor ein paar Jahren immerhin als das dreckigste Gewässer Europas, die Abwässer von zwei Millionen Menschen gingen ungeklärt da hinein, im Brüsseler Stadtgebiet wurde der Bach überhaupt überwölbt, die Luftverschmutzung wird ebenfalls eine andere sein als noch Anfang des 19. Jahrhunderts.
Zweifellos, bestätigt auch Gert Christiaens, erstaunlicherweise hat das die beiden fürs Lambic essenziellen wilden Hefen aber offenbar nicht so stark irritiert. Und sie existieren nach wie vor nur im 15-Kilometer-Umkreis von Brüssel, schon wenige Kilometer außerhalb dieser Zone gären Lambic-Biere nicht mehr durch, funktioniert die Sache einfach nicht. Amerikanische Craft-Beer-Brauer und Sauerbier-Enthusiasten haben schon versucht, Proben aus dem Gebälk der Dachstühle alter Lambic-Brauereien zu nehmen und die Hefen bei sich zu Hause zu kultivieren – klappte nicht.
Was hingegen sehr wohl klappte, war eine kleine Renaissance der Lambic-Biere, des Geuze. So war die Nacht van de Grote Dorst 2004 noch eine Protestveranstaltung, bei der ein paar Sauerbier-Enthusiasten mit kollektivem Trinken der archaischen Lambic-Biere gegen Regelungen der belgischen Gesundheitsbehörde Widerstand leisten wollten, die einige der letzten Brauereien zum Zusperren gezwungen hätten. An diesem Abend kamen mit 700 Teilnehmern aber nicht nur doppelt so viele Lambic-Freunde als erwartet auf den Kirchplatz des kleinen Brüsseler Vororts Lennik, die Behörde hatte auch ein Einsehen, und Lambic-Biere wurden als regionale Spezialität erkannt und in touristische Programme eingebaut. Dieses vielleicht eigentümlichste Bier-Festival der Welt findet seither alle zwei Jahre statt, mittlerweile kommen bis zu 2.500 Besucher, weshalb das Sauerbier-Trinken auf einen anderen malerischen Kirchplatz ein paar Kilometer weiter nach Itterbeek verlegt werden musste. „Aber die Biere sind so speziell, das Publikum für diese Getränke so überschaubar, dass sich die Hysterie in Grenzen hält“, gibt sich Organisator Yves Panneels bescheiden. Dass ein nicht kleiner Teil der Gäste und auch der eine oder andere Gast-Aussteller aber auch aus den USA anreist, macht ihn durchaus stolz.
Und das saure Bier findet auch noch ein anderes Publikum: So hat die 2010 gegründete, extra-hippe Fabrikshallen-Craft-Beer-Brauerei De
la Senne aus dem Brüsseler Stadtteil Molenbeek mit ihrem Bruxellensis seit einiger Zeit auch ein flaschenvergorenes Sauerbier im Programm, das zwar völlig anders gebraut wird als die archaischen Lambics und Geuze (die wilde Hefe wurde separiert, gezüchtet und wird extra beigegeben, das wäre nach dem königlichen Edikt von 1965 zum Schutz des Lambic-Biers streng verboten), sich dafür aber auf Platz vier der internen Beliebtheitsskala befindet. „Es hat seine Liebhaber“, weiß Marta Resmini, die Verkostungsleiterin der Brauerei. Oder das urige Lokal De Smidse, vor ein paar Jahren in einer ehemaligen Papierfabrik in Dilbeek im grünen Pajottenland gegründet, das nicht nur 60 Biere aus der Region auf der Karte hat, sondern mit der Lambiek Fabriek gleich auch eine kleine Start-up-Lambic-Brauerei gründete, deren erstes Brett-Elle aus 75 Barriquefässern voriges Jahr auf den Markt kam. Nicht zu vergessen die Lambic-Brauerei Timmermans, die immerhin seit 1702 kontinuierlich in Betrieb ist und 1995 vom belgischen Getränkehändler und Brauereibesitzer John Martin übernommen wurde, und das sicher auch nicht nur aus Sentimentalität.
Hätten diese extremen Biere einen Markt in Österreich? Schwierig, Brian Patton hat ein paar Geuze und Krieks auf der Karte seines Brickmaker-Pubs, zu den Rennern zählen die Sauerbiere da aber sicher noch nicht. „Ich persönlich liebe sie sehr, aber verkaufen lassen sie sich noch schlecht. In fünf Jahren vielleicht, oder in zehn …“ Was kein so großes Problem wäre, denn Geuze halten eh 30 Jahre und länger.
Und heimische Produzenten? Der absolute Spezialist auf diesem Sektor ist der Grazer Alfried Borkenstein, der sich vor drei Jahren selbstständig machte, „eigentlich als Grafiker, aber eigentlich braue ich seitdem nur noch Biere“. „Hopfig, belgisch, sauer“ lautet sein Motto, er liebt es, mit Hefen zu experimentieren, und ist auch einer der wenigen Craft-Beer-Macher im Land, der sich über spontane Gärung drübertraut. Sein Experimentalbier Mikrozirkus 10 (fortlaufende Nummerierung) etwa wurde mit reifen Marillen vergoren und im Barrique mit Brettanomyces infiziert; ein Bier von immenser Fruchtigkeit, sehr bitter, sehr komplex, ein bisschen fruchtige Säure und ein ungemein appetitlicher Brett-Ton. Wirklich sensationell, wie auch das Sour Blend No. 1, für das er ein 20 Monate altes Saison mit jungem Saison mischte, mit Brettanomyces und Laktobazillen infizierte und im Fass fertig gären ließ; stoffig, würzig, komplex, köstlich und einfach großartig. „Als Home-Brewer hätte ich das nie gemacht, aber angesichts des heurigen Craft-Beer-Festes stieg der kreative Druck so stark, dass ich mich da drübergetraut habe.“ Danke, kreativer Druck.
Das saure Belgien wird den österreichischen Biertrinkern in den nächsten Jahren jedenfalls nicht erspart bleiben, wie es aussieht, sei es, dass man als wahrhaftig Entflammter zur Nacht van de Grote Dorst pilgert, sei es, dass man die sauren Biere hierzulande erforscht, sei es, dass man bei heimischen Brauwerken die Säure schmeckt. Wir sind sauer, und das ist gut so.