
Russland hippste Insel
In Sankt Petersburg verwandelte sich mit reichlich Oligarchen-Kapital eine heruntergekommene Militärinsel zu einem Musterbeispiel zeitgemäßer Urbanisierung. Von gutem Geschmack kündet auch das hier etablierte CoCoCo- Restaurantkonzept von Matilda Shnurova und Igor Grishechkin.
Text von Christian Grünwald
Teuerste Scheidung, prunkvollste Yacht, teuerster Fußballverein. Roman Abramowitsch kennt man nicht nur aus dem Wirtschaftsteil der Zeitung, sondern auch aus der Yellow Press. Das Vermögen des Oligarchen wird auf 9 Milliarden Euro geschätzt.
Roman Abramowitsch investierte 59 Millionen für Fernando Torres als Stürmer beim FC Chelsea, eine Mezzie im Vergleich zu den Kosten für die Scheidung von seiner Ehefrau. Dasha Schukowa ist mittlerweile mit Reederei-Erbe Stavros Niarchos verheiratet. Kapitalmäßig bleibt man in diesen Kreisen eben doch recht gerne unter sich.
Unter diesem Gesichtspunkt wirkt der Kauf einer Insel mit heruntergekommenen Backsteingebäuden mitten in Sankt Petersburg nicht weiter aufregend, geradezu vernünftig. „New Holland“ hat die Form eines gleichschenkeligen Dreiecks und liegt zentrumsnah am Admiralitäten-Kanal. Peter der Große ließ hier im 18. Jahrhundert eine Werftanlage im holländischen Backsteinstil bauen. Einige Gebäude haben Raumhöhen von bis zu 27 Metern, weil in ihnen die Kriegsmarine ganze Schiffe lagerte.
Der Inselboden war bei der Übernahme 2010 sumpfig-weich; nicht die einzige Herausforderung bei der Umgestaltung. Auch das Denkmalschutzamt gab strenge Auflagen für das innerstädtische Revitalisierungsprojekt vor. Russische Medien wollen von 300 Millionen Euro Investitionskosten wissen. Tendenziell sind es wohl mehr.
Insel klingt nach weitab vom Schuss, New Holland ist aber vom Zentrum aus komfortabel zu Fuß erreichbar. Im ehemaligen Gefängnis ist nun eine weitläufige Shoppingmall untergebracht, es gibt kulturelle Events und andere Vergnügungen. Im Sommer ist ein Badestrand mit Palmen aufgebaut, der im Winter zum Eislaufplatz wird. Eine Stadt in der Stadt, eine Urbanisierung auf allerhöchstem Niveau, vergleichbar mit Prestige-Projekten in Asien oder den USA.

Ein Ort wie dieser braucht eine adäquate gastronomische Ansage, die mehr als die üblichen Pizza-Burger-Taco-Sushi-Outlets liefert. Matilda Shnurova hat derartige Konzepte parat. Sie startete 2012 ihr Restaurant CoCoCo in seiner ersten Version. Im Sommer hatte nun der mittlerweile dritte Relaunch ihres Restaurantprojekts auf der New-Holland-Insel Premiere. Eigentlich sind es gleich zwei Restaurants, die hier im Erdgeschoß des Eckhauses Nummer 12 auf einer Fläche von rund 1.000 m2 an den Start gehen. Da ist das legere CoCoCo Bistro mit russischen und internationalen Gerichten für jede Tageszeit; und dann ist da auch noch das High-Level-Restaurant CoCoCouture, in dem die moderne russische Küche regelmäßig neu definiert wird.
In den Jahren davor erhielt das CoCoCo-Projekt schon an einem anderen Standort dank der kreativen Arbeit von Küchenchef Igor Grishechkin eine Auszeichnung, von der viele Gastronomen auf der Welt träumen: auf der The World’s 50 Best Restaurants-Liste gereiht zu sein.
Roman Abramowitsch scheint das neue CoCoCo-Projekt sehr zu begeistern. Er degustierte alle angebotenen Gerichte noch vor der offiziellen Eröffnung. „Das größte Kompliment für unser Team war, dass er dabei die kompletten Menüs bis hin zu jedem Dessert probiert hat“, freut sich Matilda Shnurova.

Spitzengastronomie auf internationalem Niveau ist in Russland noch immer ein Nischenmarkt. Neben White Rabbit-Küchenchef Vladimir Mukhin hat Igor Grishechkin mit dem CoCoCo die russische High-Level-Cuisine definiert.
Während der extrovertierte Vladimir Mukhin von Moskau aus mit seinem Partner Boris Zarkov ein Gastro-Imperium mit 40 Lokalen im ganzen Land aufgebaut hat, bäckt der eher introvertierte Igor Grishechkin gemeinsam mit Matilda Shnurova vergleichsweise kleine Brötchen. Auch so drückt sich der Unterschied zwischen dem mächtig-protzigen Moskau und dem als eher intellektuell-feinsinnig geltenden Sankt Petersburg aus.
Es war eine Art Schicksalsfügung, dass Igor Grishechkin vor gut zehn Jahren beim LavkaLavka-Projekt in Sankt Petersburg als Küchenchef anheuerte. „Das war eine Mischung aus qualitativ hochwertigem Lebensmittelmarkt und Restaurant. Wir bereiteten Lebensmittel von Bauern aus ganz Russland in der offenen Küche vor den Gästen zu, diskutierten mit ihnen über Produktqualität und Rezepturen.“
Unter den Stammgästen im LavkaLavka befand sich auch Matilda Shnurova, damals noch verheiratet mit Sergey Shnurov, Bandleader der Ska-Punk-Band Leningrad. In ihrer gemeinsamen Zeit waren die beiden ein umschwärmtes Paar im Showbusiness, Marke „der Punker und die elegante Schöne“. Auch nach der Scheidung ist Matilda Shnurova ein Medien-Celebrity, posiert in der Vogue und anderen Hochglanz-Medien, nicht nur für Mode und Lifestyle, sondern natürlich auch für ihre Gastronomie.
Matilda Shnurova gründete CoCoCo vor acht Jahren. Der Name hat übrigens keine Bedeutung: „Das Kunstwort spielt phonetisch mit dem Laut von Hühnern, und wir wollten etwas, das mit Landwirtschaft zu tun hat.“
Igor Grishechkin war von Beginn an hauptverantwortlicher Küchenchef, die Verwendung lokaler Produkte von Bauern war stets im Mittelpunkt: „Damals war das sehr teuer und nur schwer machbar.“ Über die Jahre hat sich zumindest eine kleine Gruppe zuverlässiger Lieferanten ausgebildet, die auch ein wichtiger Teil des CoCoCo-Erfolgs sind. Die Ideenwelt von Igor Grishechkin ist weniger in der russischen Tradition als im internationalen Heute verhaftet. „Ich verwende regionale Produkte, die in Russland heimisch sind, bediene mich dann aber gerne populärer internationaler Techniken und Zubereitungen.“ So wird dann etwa aus Roggenbrot mit geräucherter Makrele, Hirschfilet und Keta-Kaviar eine Art russisches Sushi bzw. Maki. Toll auch die rohe Jakobsmuschel aus Murmansk, mit Kaviar und geeistem Apfel, oder die Kabeljau-Leber-Terrine mit Apfelchutney und Brioche.
Und da ist auch noch die künstlerische Seite von Igor Grishechkin, wenn er in einem Fabergé-Ei-Imitat ein echtes Kleinod aus knusprigem Eiweiß, Hollandaise, Kaviar und Blattgold komponiert oder aus dunkler Schokolade, Halva und Sauerrahmmousse einen zerbrochenen Blumentopf zaubert, der nicht nur zu 100 % essbar ist, sondern auch als eine Mischung aus Pop-Art und Surrealismus angesehen werden kann. Massimo Bottura wurde mit seinem „Oops, I dropped the lemon tart“-Dessert zum Star. Grishechkins Blumentopf hat ähnliches Kultpotenzial.
Was alle russischen Spitzenköche durch ihre Karriere begleitet, ist ein gewisses Hadern mit der Qualität der verfügbaren Produkte. Zwar gibt es die Produkte, sie aber in der nötigen Kontinuität und Menge zu erhalten, ist ein schwieriges Unterfangen, bei dem die Faktoren Vertrieb und Entfernung zusätzliche Hürden darstellen. Besonders an wirklich gutem Fleisch mangelt es oft.
Die Verhängung der EU-Sanktionen anlässlich der Krim-Annexion stellte die Edelgastronomie vor zusätzliche Probleme. Lebensmittel und Weine aus Mitteleuropa sind seither nur unter einigen Mühen zu bekommen. Im Alltagsleben gilt der Grundsatz „über Minsk geht alles“. Und tatsächlich kommen Champagner, Bordeaux-Weine, edle Schinken und Käse dann eben über den Umweg der Belarus-Hauptstadt nach Russland.
Zugleich war der Mangel aber auch ein Initialgeber für heimische Produzenten, die, durch die Nachfrage ermutigt, erstaunliche Produkte liefern. So werden etwa Fische und Meeresfrüchte in erstaunlicher Qualität in den Häfen von Wladiwostok angelandet. Auch Gemüse und andere Agrarprodukte gibt es mittlerweile in guter Qualität aus kleinen Landwirtschaften. Interessanterweise hat sich in Russland trotz aller Monokulturen eine erstaunliche regionale Biodiversität erhalten.
Der alte Mietvertrag am bisherigen CoCoCo-Standort im Sofitel war noch aufrecht, darum initiierte Matilda Shnurova ihr drittes neues Restaurantprojekt im Jahr 2020 – nicht schlecht für diese durch Covid-19 so üble Zeit für die Gastronomie.
Für Bio My Bio hat Matilda Shnurova gemeinsam mit dem aus Frankreich stammenden Küchenchef Regis Trigel ein Keto- und Paleo-Küchenkonzept erstellt, das auch international einige Nachahmer finden könnte. „Seien wir doch ehrlich: Fast allen gesunden Green-Food-Projekten fehlen letztlich der Wow-Faktor und die Kreativität.“ Shnurova hat allein schon durch ihre Ballettkarriere sehr prägende Erfahrungen mit gesunder Kost gemacht. „Ich lebe mit verschiedenen Diäten und Ernährungsformen, seit ich 17 war.“
Bio My Bio-Speisen sind demgemäß gesunde und geschmackvolle Energielieferanten, hergestellt mit minimaler Wärmezubereitung, die Inhaltsstoffe wie Zucker, Gluten, Laktose und Glutamat ausschließen. Ein luftiges Eiweiß-Omelette-Soufflé mit Kamtschatka-Krabbe ist da ebenso möglich wie Tandoori-Huhn mit Zaziki, statt Topfen und Auszugsmehl verwendet die Küche Tofu und Mandelmehl, die kalorienarme und als vitalisierend geltende Spirulina-Sauce ist aktuell ein echter Renner. In der Sommersaison macht die Gemüseküche wirklich etwas her. So oder so ist man mit den Speisen weit weg von jedem militanten Veganismus. Und dass im Publikum vor allem junge Leute sitzen, hängt einerseits mit dem ebenfalls sehr jungen und auffällig kompetenten wie engagierten Personal zusammen. Andererseits fasziniert das schicke Ambiente, das durch die intelligente Beleuchtungstechnik zwischen noblem Restaurant psychedelischer Disco mäandert.
Wie überall auf der Welt ist auch in Russland das gesellschaftliche Leben in allen Bereichen, die Spaß, Genuss und Freude machen, durch Covid-19 schwer beeinträchtigt. Ans Aufgeben hat Matilda Shnurova keine Sekunde gedacht. „Die Phasen, in denen wir die Lokale komplett schließen mussten, sind natürlich sehr dunkle Momente. Wir warten sehnlichst darauf, auch wieder viele internationale Gäste auf New Holland begrüßen zu können.“ Trotz finanzieller Einbußen wurde kein einziger Mitarbeiter entlassen. „Meine Leute zählen zu den Besten ihres Faches im ganzen Land, sie sind wesentliches Betriebskapital.“
Die Achillesferse aller auf internationale Gäste ausgerichteten Restaurants in Russland ist der Service. Zeitgemäße Dienstleistung hat es in diesem Land ohnehin in vielen Bereichen schwer, dazu kommen fachliche und warenkundliche Mängel und vor allem auch kaum vorhandene Fremdsprachenkenntnisse. Engagierte Betriebe wie die von Matilda Shnurova bilden ihre Mitarbeiter daher selbst aus.
Die neue russische Küche hat die Ingredienzen, die die globale Kulinarik-Karawane à la The World’s 50 Best so liebt – autochthone Zutaten, archaische Zubereitungen und ein gehöriger Schuss Klischee. Igor Grishechkin kann mit all dem aufwarten: „In unserem rauen Klima wachsen Pilze, Früchte und Gräser wie sonst nirgendwo auf der Welt. Unser Land reicht bis nach Asien, hat also mannigfaltige kulturelle Berührungspunkte. Die Geschichte des Räucherns, Einlegens und Salzens ist etwas, das die Russen aus der Notwendigkeit heraus seit Generationen praktizieren – sie ist sozusagen Teil der russische DNA. Kein Land kann mehr Geschmack aus einfachsten Zutaten erzielen. Wir sind da den Skandinaviern ähnlich. Wir haben viel Zeit damit verbracht, an unserer Kultur und unseren Techniken zu feilen, und jetzt sind wir bereit, sie der Welt zu servieren.“
Wohnen
Am komfortabelsten und auch für alle touristischen Expeditionen am besten positioniert wohnt man im mit jungem Touch versehenen SO/ Sofitel, sostpetersburg.com (früher, die Einrichtung macht es deutlich, ein Haus der schicken W-Hotelkette), oder dem mondänen, palastartigen Four Seasons Hotel
www.fourseasons.com/stpetersburg
Essen
CoCoCo Bistro & CoCoCouture
Die beiden neuen Restaurants von Matilda Shnurova mit der Küche von Igor Grishechkin im Haus Nummer 12 der New-Holland-Insel bieten einerseits gut gemachte Bistro-Gerichte, aber auch detailverliebte Menüs mit großem Anspruch. Stilistisch geht der Bogen im Bistro von Amerika bis Asien, im Couture wird die russische Küche neu definiert und erzählt.
www.cococodelivery.ru
www.newhollandsp.ru
Bio My Bio
Ideenreiche vegetarische und vegane Küche in der Halle des SO/ Sofitel-Hotels nahe der Isaakskathedrale. Keto- und Paleo-Fans sind hier im siebenten Himmel, allen anderen geht erstaunlicherweise aber auch nichts ab. Cooles, beinahe spaciges Ambiente.
www.biomybiodelivery.ru
Birch
Benannt nach der Birke, dem Nationalbaum des Landes, gibt es hier kreative Fusions-Küche wie Thunfisch-Ceviche mit Erdbeere oder Krabbensuppe mit Wontons. Die vergleichsweise moderate Preisgestaltung wirkt magisch auf das junge Publikum.
www.birchrest.com/en
Bourgeois Bohemians
Im eleganten Bistro-Ambiente serviert die Küche einen Mix aus russischen, französischen und skandinavischen Stilelementen, hergestellt aus regionalen Produkten; etwa Sauerampfersuppe mit arktischen Garnelen oder Hirschfilet mit geräuchertem Artischockenpüree
www.bobospb.ru
Duo Gastrobar
Punchy Aromen, null Pomp. Dmitry Blinov und Renat Malikov gelten dank ihrer pfiffigen europäischen Bistroküche als die Szene-Shootingstars. Moderate Preise und interessante russische Weine.
www.duobar.ru/en
Harvest
Minimalistisches Esszimmer außerhalb des Stadtzentrums von Sankt Petersburg mit dem Schwerpunkt auf nachhaltiges, abfallfreies Kochen. Die Küche folgt einer kreativen, marktfrischen Philosophie. Da kann es dann als Dessert auch einmal Karfiol-Ganache mit Johannisbeeren und Kaviar geben.
www.harvestduo.ru