
Nord-Süd-Gefälle
2018 feiert Triest den 100. Geburtstag der Zugehörigkeit zu Italien. Doch davor war die Stadt über fünf Jahrhunderte lang der bedeutendste Hafen der Donaumonarchie. Über das Essen in einer Stadt am Schneidepunkt der Kulturen.
Text und Fotos von Georges Desrues
Von Triest weiß man oft nicht, ob es sich um die südlichste Stadt des Nordens handelt oder um die nördlichste des Südens. Wenn im Winter der Fallwind namens Bora mit über 120 km/h durch die steilen Straßen fegt, im Yachthafen die Boote peitscht und die gefühlte Temperatur weit unter den Gefrierpunkt drückt, fühlt man sich ohne Zweifel im Norden. Dann ist es Zeit, sich an einer Jota zu wärmen, an dieser kuriosen und deftigen Suppe aus Sauerkraut, Bohnen, Kartoffeln und Geselchtem.
Wenn sich aber, häufig schon tags darauf, das Wetter beruhigt und der Wind gelegt hat, der Himmel sein tiefstes Blau hervorkehrt, die Wintersonne auf der spiegelglatten Adria glitzert und die Café-Terrassen wärmt, dann ist man eindeutig im Süden – und es lockt statt der Jota das Brodetto, jene tomatisierte Suppe aus Fischen und Meeresfrüchten, die rund um die Adria verbreitet ist.
Genau wie ihre Geschichte und ihr gesamtes Wesen ist auch die Küche der Hafenstadt geprägt von der Zerrissenheit zwischen Norden und Süden, zwischen mitteleuropäischer und mediterraner Identität. Aber auch zwischen Osten und Westen, an deren politischer Grenze man hier jahrzehntelang lag, mit starken Einflüssen aus dem Balkan einerseits und aus dem nahen Venedig andererseits.
Sauerkraut, Geselchtes, Zwetschkenknödel und Gulyás zählen gleichermaßen zum kulinarischen Erbe Triests wie Spaghetti alle vongole, marinierte Sardellen oder frittierte Tintenfische. Aber auch wie Cevapcici, wie Krautrouladen Sarma, Maissuppe Bobici oder Mehlspeisen wie Gibanica, Presnitz oder Pinza.
Ob es nun an einer naturgegebenen Unvereinbarkeit dieser so unterschiedlichen Gerichte und Zutaten liegt, dass es in der Stadt so gut wie kein Lokal gibt, in dem diese mannigfachen Einflüsse zusammenfügt und innovativ aufgearbeitet werden, oder aber an der unter italienischen Köchen weitverbreiteten Vorliebe, sich anstatt mit Kreativerem lieber mit Traditionspflege und Bewahrung althergebrachter Zubereitungsformen zu befassen, bleibt eine offene Frage. Jedenfalls aber ist man in Triest besser beraten, auf Traditionelles zu setzen.
Wie zum Beispiel auf die sogenannten Buffets. Sie sind der Triester Lokaltyp schlechthin und im Regelfall einfache, von Sauerkraut-Duft erfüllte Beiseln. Herzstück eines Buffets ist die Caldaia, ein dampfender Wurstkessel, aus dem Altösterreichisches wie Geselchtes, Krainer-Würste oder Rindszunge gefischt und mit Kraut, Senf und Kren serviert werden.
Die Triester selbst sehen in ihren Buffets und deren unitalienischem, deftigem Angebot ein liebevoll bewahrtes Relikt aus einer Zeit, als man noch der bedeutendste Hafen der Donaumonarchie war; und noch nicht eine italienische Hafenstadt von vielen.
Für Besucher von nördlich der Alpen indessen stellen die Lokale mit ihrem Angebot an Sauerkraut und Geselchtem eine sehenswerte Kuriosität dar und bieten zudem Einblick in die stark von Nostalgie geprägte Seele einer Stadt, die sich selbst gerne als „Vienna sul mare“ bezeichnet.
Doch so schmeichelnd der nostalgische Charme der Buffets auch sein mag, gekommen ist man wegen etwas anderem. Denn eben weil man endlich am Meer ist, weil die Versorgung mit Fisch hier hervorragend ist und es sogar noch eine Handvoll Fischerboote gibt, will der von Sehnsucht nach Süden geprägte Nordländer natürlich auch Fisch essen.
Emblematischstes Fischgericht der Stadt sind ohne Zweifel die Sardoni panati, also entgrätete und panierte Sardellen, die optisch und wegen ihrer knusprigen Bröselhülle freilich gleichfalls an Panier-verliebte Küchentraditionen des Nordens erinnern.
Für die Triestiner besteht kein Zweifel, dass die besten und geeignetsten Sardellen für ihr Lieblingsgericht sozusagen vor ihrer Haustür, nämlich im Golf vorm Stadtteil Barcola gefischt werden. Wie man allerdings angesichts dieser nicht gerade schonenden Zubereitungsart solche wertvollen Sardoni barcolani unterscheiden soll von herkömmlichen Sardellen, erschließt sich dem Besucher in der Regel nicht.
Venezianischen Ursprungs indessen sind weit-verbreitete Gerichte wie Tintenfische in ihrer Tinte mit Polenta, Sarde in saor oder die Vongole für die allseits beliebte Pasta. Aber auch der Stockfisch, der gerne als Baccalà mantecato, also als Aufstrich, oder alla vicentina, nämlich in Milch gekocht und mit Polenta, serviert wird. Ab Juni beginnt die Hochsaison der berühmten Scampi aus der nahen Kvarner-Bucht vor Opatija und Rijeka. Zubereitet werden sie gerne alla busara, also in einer Sauce aus Tomaten, Weißwein und Bröseln. Ganzjährig indessen, allerdings zu unbestimmbaren Zeitpunkten, tauchen immer wieder Mazzancolle auf, knackige und bisweilen recht mächtige Garnelen, die sich hier bis vor wenigen Jahren nur selten fanden und offenbar wegen des Klimawandels auf der Suche nach kühleren Gewässern aus dem Meer um Sizilien nach Norden wanderten.
Als alternative Zutat für die Busara werden gerne die als weniger nobel geltenden Canocchie verwendet. Diese recht unansehnlichen, auf Deutsch Heuschreckenkrebse genannten Krustentiere eignen sich wegen ihres intensiven Geschmacks geradezu ideal für diese Art der Zubereitung. Außerdem zählen sie noch zu den billigeren Meeresfrüchten, was sie wiederum für Marco Munari interessant macht.
Der Koch und Betreiber der Osteria Salvagente in der Nähe des Yachthafens hat sich darauf spezialisiert, ausschließlich mit Pesce povero („armem Fisch“) zu arbeiten. Darunter versteht man in der Regel kleine, grätenreiche Fische sowie einige Meeresfrüchte, die als weniger edel gelten, schwierig zu verarbeiten sind und folglich auch weniger kosten. Wie zum Beispiel Sardine, Makrele, Wittling oder Stöcker.
Große Fische im Ganzen und Scampi wird man bei Munari nicht finden, dafür eine ehrliche und einfache Fischküche, die als Beweis dafür gelten darf, dass ein mit etwas Fantasie und viel Arbeitseifer ausgestatteter Koch auch heute noch wahre Fisch-Festessen zu vernünftigen Preisen auftischen kann.
Etwas bürgerlicher-gediegen ist die Atmosphäre im Nuovo Antico Pavone. Serviert wird hausgemachte Pasta, frischer Fisch und saisonales Gemüse. Das alles weitgehend klassisch zubereitet mit bisweilen einigen durchaus gewinnenden Ausflügen ins Kreative, wie zum Beispiel Oktopus mit frischen Artischocken.
Eines der wenigen Fisch-Restaurants, die mit Erfolg auf ambitioniertere Küche setzen, ist das Nerodiseppia unweit der ehemaligen Fischmarkthalle. Das Dekor ist modern, schlicht und bunt, der Fisch weitgehend lokal und saisonal, die Küche bedacht innovativ. Zu empfehlen sind etwa das Fritto misto aus dem Golf sowie der Salat von gedämpftem Oktopus und Tintenfisch mit Stangensellerie und Petersilkartoffeln.
Schade nur, dass außer dem Salvagente keines dieser drei Lokale Tische im Freien anbietet. Was es in Triest übrigens kaum gibt, sind Restaurants direkt am Wasser. Mit allerdings drei nennenswerten Ausnahmen.
Da wäre zum einen die im Vorjahr eröffnete Osteria del Vento im Feinkost-Supermarkt Eataly: Lage und Ausblick sind absolut bezaubernd, die Küche durchaus anständig und keineswegs überbezahlt. Essen im
Supermarkt ist allerdings nicht jedermanns Sache.
Dann wäre da noch das Restaurant Pier, untergebracht in der Marina San Giusto, nur wenige Schritte vom Eataly hinaus in Richtung Meer. Das Setting zwischen ein- und auslaufenden Segelbooten ist gewaltig, in eine Richtung tut sich der Golf auf, in die andere das Stadtzentrum. Nur leider ist die Küche alles andere als empfehlenswert. Weswegen man hier besser beraten ist, lediglich auf einen Aperitif auf der Dachterrasse vorbeizuschauen.
Schließlich gibt es noch das Terrazza im öffentlichen Strandbad Ausonia, keine zehn Gehminuten vom Zentrum. Die Lage ist spektakulär, die Sonnenuntergänge sind umwerfend. Man sitzt weit draußen über dem Meer, wo Frachter und Tanker auf Reede liegen, während in Richtung Süden die Frachtfähre nach Istanbul beladen wird. Schade nur, dass der Betreiber beziehungsweise die Belegschaft alljährlich wechseln und die Qualität der Küche mit ihnen. Aber vielleicht klappt’s ja heuer.
Um beides zu genießen, also sowohl einen Tisch am Meer als auch richtig gute Fischküche, muss man die Stadt schon verlassen. Am besten in Richtung des zehn Kilometer entfernten Orts Grignano. Dort haben sich vor mehr als 25 Jahren zwei elegante Herren zusammengetan und die wunderbare Tavernetta al Molo eröffnet. Küche und Atmosphäre sind gutbürgerlich, der Fisch ist stets ausnehmend frisch und wurde bisweilen von Tauchern mit Harpunen erlegt. Im kleinen Hafen vor der Restaurantterrasse liegen Segel- und Fischerboote, dahinter öffnet sich die blaue Adria. Vor allem in der warmen Jahreszeit gerät ein Essen hier zur herzerweiternden Orientierungshilfe, indem es jeden Zweifel daran beseitigt, dass man endgültig im Süden angekommen ist.