Geschirr kocht mit

Glasuren, die auf der Rückseite Hallo sagen, mürrische Oberflächen, würziger Ton: Bei Gastronomen, die mit maßgeschneiderter Keramik arbeiten, geht es höchst lebendig zu.

Text von Anna Burghardt Fotos von Michael Reidinger

Am Ende sollte vor den Augen des Keramikers Gänseleberschnee aus einer kitschigen japanischen Eismaschine auf sein Werk, den Teller, rieseln. „Bei uns heißt’s ,Foie-gras-kigōri‘“, kommentiert der Koch Lukas Mraz am Tisch, „Kakigōri heißt das Eis im Original.“ Besagter Teller: auf der Töpferscheibe gedrehtes Porzellan, massiv und mit einer ungewöhnlich üppigen Glasur, die scheinbar während des Abperlprozesses plötzlich erstarrt ist. Keramiker Matthias Kaiser hat diese Teller für das Restaurant Mraz & Sohn im zwanzigsten Wiener Bezirk gefertigt.

Es war Lukas Mraz, Sohn von Markus und Bruder von Manuel Mraz, der aus Berlin heimgekehrte Koch also, der die Zusammenarbeit mit dem Keramiker forciert hat und unter anderem mit diesen Tellern im September gleichsam seinen offiziellen Einstand im väterlichen Lokal gefeiert hat. Es ist eine Kooperation, die auf gegenseitigem Verständnis beruht: Matthias Kaiser, dessen Stücke in internationalen Sammlungen vertreten und in renommierten Magazinen zu sehen sind, wurde in Japan ausgebildet. Dort hat er unter anderem gelernt, warum Gesteinseinschlüsse im Ton nicht verschämt getilgt werden, sondern im Gegenteil als Tsuchi-aji, als „Würze“, geschätzt werden; oder wie man Glasuren aus selbst zusammengesuchten Zutaten aus der Natur mischt. Und Lukas Mraz auf der anderen Seite ist als Japan-Fan mit ausgeprägtem Spieltrieb nicht nur von fancy Küchenhelfern wie der erwähnten Kakigōri-Maschine angetan oder von der Japanischen Mandoline, mit der man etwa einer Sellerieknolle hauchdünne Pappardelle entlocken kann; er hat auch ein Faible für Geschirr mit Persönlichkeit nach japanischer Denkweise. Dieser Koch weiß Kaisers Stücke mit all ihren expliziten Unregelmäßigkeiten zu würdigen und sie so einzusetzen, dass sie Teil der Performance im Rahmen des rund 14-gängigen Menüs im Mraz & Sohn sind.

Matthias Kaiser hat dem Restaurant unter anderem auch unglasierte Schüsseln mit zwei dezenten Griffen (und deutlich sichtbaren Einschlüssen in der Masse) geliefert, in denen ein Gang aus winzigen Erdäpfeln angerichtet wird. Die Küche würzt mit Trüffeln und Haselnüssen, der Keramiker auf seine Art: mit Gesteinsspuren im Ton. Für die auffallenden Teller mit der geradezu ­exzentrischen, sich zu Inseln zusammenfindenden Glasur muss Matthias Kaiser extrem dick auftragen. Kairagi sagt man in Japan zu dieser Technik, die Kaiser auch schon bei einigen der großen Schüsseln angewendet hat, die er für die Mochi Ramen Bar am Wiener Vorgartenmarkt gemacht hat (das Stamm-Mochi in der Praterstraße war überhaupt sein erster Auftraggeber für maßgeschneidertes Geschirr).

Für zwei Teller des Mraz & Sohn interessiert sich übrigens auch das Museum für angewandte Kunst Wien für seine Sammlung – allein das Budget hat bisher gefehlt. Die Familie Mraz indes investiert dieses Geld, weil man ahnt, um wie viel größer gleich der Genuss durch gute Keramik wird. Ihr Restaurant ist bei Weitem nicht das einzige hierzulande, das ­heimische Keramiker für eine eigenständige Hardware beauftragt; die Zahl wächst seit einigen Jahren beträchtlich. Und manche Keramiker wie Romana Widder-Lunzer in Wien berichten von steigendem Interesse von Privatpersonen, die sich ein eigenes Service machen lassen, das sich in die Formensprache der Kreativen einordnet, aber doch eigene Vorstellungen miteinbezieht, etwa was Format und Farbe betrifft. In der Spitzengastronomie, ob Coburg, Konstantin Filippou, Noma oder Eleven Madison Park, ist maßgeschneidertes Geschirr ohnehin längst State of the Art. Wer einen enormen Aufwand rund um die Zutaten seiner Küche betreibt, möchte seine ­Gerichte nicht auf Massenware, auf Industriegeschirr, servieren.

Der Taubenkobel in Schützen am Gebirge arbeitet als österreichischer Vorreiter schon seit den Achtzigerjahren (damals mit Walter Eselböck in der Küche) mit Eveline Lehner aus demselben Ort zusammen. Für den Mühltalhof in Neufelden töpfert Elfriede Ruprecht-Porod, übrigens mit Lehm aus der Umgebung. Die Forelle am Weißensee bezieht ihr Geschirr hauptsächlich von Anette Reuer (über seine Anfänge mit teurem, aber unsinnlichem Massenporzellan kann Patron Hannes Müller heute nur mehr lachen). Und für das junge Rossbarth in Linz etwa sind Julian Meindl, Beate Seckauer und Bernhard Schmotzer am Werk. Dass es ­immer mehr Lokale sind, die diesem Trend folgen, eröffnet die Frage: Werden sich die Vorreiter irgendwann wieder von individueller Auftragskeramik abwenden? Was kommt als Nächstes? Schließlich ist handgemachte Steingutware nicht das Einzige, worauf man servieren kann. Zusammengewürfeltes Geschirr vom Flohmarkt, wie es in Österreich etwa die Feldküche mit ihren langen Tafeln an ungewöhnlichen Orten vorgemacht hat? Der Einsatz von zeitgenössischen Entwürfen aus jahrhundertealten Porzellanmanufakturen wie Augarten, Fürstenberg, Royal Copenhagen? Zweckentfremdetes Geschirr aus Spitälern, Camping und Armee für eine Prise Verstörung bei Tisch? Oder doch wieder völlig neutrales Geschirr, das sich in den Hintergrund zurückzieht – eine Norm-Core-Tischkultur?

Oft ist es erst der Kontrast zwischen dem eigenen schnittigen Antlitz und der anziehenden Mürrischkeit von rauem Ton, der individuell gefertigtes Geschirr für Gastronomen so reizvoll macht: Das Restaurant ­Motto am Fluss ist ein Beispiel für ein Glanz liebendes innerstädtisches Lokal, das beim Geschirr doch gern auf raue Optik vom Land setzt: Die ­gewölbten Teller von Nadja Peltzer sind grobkörnig, eher mürrisch denn schmeichelnd an der roh belassenen Unterseite, während die graugrün glasierte Oberfläche eine leicht melancholische Miene zeigt. Die gebürtige Deutsche Peltzer hat im Burgenland, wo sie unter anderem beim Weingut Meinklang mitgearbeitet hat, Gefallen am Arbeiten mit Ton. Sie verwendet keine Töpferscheibe, sondern Gipsformen, in die sie den Ton hineindrückt. Mindestens zehn Stunden trocknen die Stücke in der Form, danach eine Woche außerhalb. Und so assistieren ihr Luft, Luftfeuchtigkeit und die Hitze im Brennofen als unsichtbare Mitarbeiter: indem diese mal da, mal dort leise zupfen, fast unmerklich drücken und ziehen und so die Tellergeschwister (die an sich alle derselben ­Mutterform entstammen) von eineiig in mehreiig verwandeln. Einem Tellerstapel – vierzig Exemplare hat das Motto am Fluss bei Nadja Peltzer bestellt – würde man nicht ansehen, dass ursprünglich alle in dieselbe Form gedrückt wurden. Jedes Stück ist anders gewölbt, subtil verzogen. Ein Gestaltungselement, das man nur bedingt steuern kann, eines, das die Neokeramikerin dem Zufall verdankt. Und über das sie ihren Auftraggeber auch im Vorfeld informiert hat. „Ich habe angekündigt, dass ­alle ein bisschen unterschiedlich sein werden, dass auch die Glasur nicht einheitlich sein wird. Genau das wollten sie aber auch.“

Peltzer hat bisher zu Hause an ihren Stücken gearbeitet, das Brennen musste sie auslagern. Auf dem Plan steht nun aber ein eigenes Kera­mikatelier in der Nähe von Bratislava, wo ihr Lebensgefährte Wein macht. Dann kann Nadja Peltzer die steigende Nachfrage bedienen, mit der sie, die viele Kontakte in die Weinszene und die Gastronomie hat, sich mittlerweile konfrontiert sieht. „Und dann fange ich mit eigenen Gips­formen an, eigenen Glasuren …“ Ihr Vorrat an Tellern aus eigener Hand sei übrigens ständig kleiner geworden, erzählt die Dreißigjährige: „Wenn Gäste sagen ,Oh, der gefällt mir‘, sage ich schon oft ,Hier, nimm ihn gleich mit, dann musst du nicht warten.‘“

Nicht immer ist der Einfluss von Keramikern auf das Gesamterlebnis in einem Lokal so stark wie im Aend, das Fabian Günzel im Frühling im sechsten Bezirk eröffnet hat: Er lässt gleichsam das Geschirr mitkochen. Von Anfang an arbeitet Günzel mit Petra Lindenbauer zusammen, serviert fast ausschließlich auf ihren präsenten, selbstbewussten, teils richtig skulpturalen Stücken. Lindenbauer lebt in Stadtschlaining und ist als ­Keramikkünstlerin im Ausland präsent, etwa in Taiwan oder Korea. Sie kann aber auch die vermutlich längste Liste an Aufträgen von Gastronomen hierzulande vorweisen: Steirereck, Coburg, Wiesergut, Gut Purbach – sie alle und noch mehr Lokale arbeiten mit Geschirr aus ihrer Werkstatt, das sie stets auch dem jeweiligen Interieur anzupassen weiß, ohne dass es ihre eigene Handschrift verliert. Es sei immer ein Vier-Parteien-Projekt: „Der Koch, die Keramikerin, der Ort, die Gäste“, zählt Petra Lindenbauer auf. Auch für Kochbücher, Rezeptmagazine und Geschäfte hat sie schon eigens Stücke angefertigt. Ein reicher Erfahrungsschatz ­also. Noch nie aber, erzählt sie beim Fototermin im Aend in der ­Mollardgasse, hatte sie einen Auftrag wie den ersten von Fabian Günzel: „Keine ­Vorgabe. Einfach irgendetwas.“ Lindenbauer, die ohnehin nie nur das „­ausführende Medium“, wie sie es nennt, sein will, sondern sich bei jedem Auftrag auch selbst künstlerisch weiterentwickeln möchte, hat das wirklich zu schätzen gewusst. Die Freiheit, die Günzel ihr geboten hat, hat sie zu ­trichterartigen Schalen mit steil hochgezogenen Wänden geformt. Im Rahmen des ersten Aend-Menüs wurde darin ein Gericht aus Erdäpfelschaum und Kürbiseis serviert. Mittlerweile entwickelt man Stücke auch gemeinsam, die Keramikerin spürt aber noch immer viel Freiraum. „Das Ergebnis wird optimiert, wenn man sich Freiheiten lässt. Aber der Durchmesser zum Beispiel für einen Teller, der muss von Fabian kommen. Für mich ist der nicht so relevant, für die Köche, für das Konzept eines Gerichts schon.“ Ebenfalls aus Petra Lindenbauers Atelier sind massive graue Platten, schwere flache Eierbecher und halbe Teller ins Aend gekommen. „Zweiteilige Teller“, sagt sie dazu: auf der Rückseite nummeriert und im ­Regal der offenen Küche des Restaurants geordnet gestapelt, sodass ein Paar am Tisch stets die zwei Hälften eines Exemplars bekommt – mit Petit fours darauf. Diese Teller wurden auf der Töpferscheibe ganz normal gedreht und danach entlang einer Fuge auf der Rückseite entzweigerissen, im noch feuchten Zustand, was ihre ­verzogene Form erklärt.

Für das Aend hat Lindenbauer auch einen ­Entwurf realisieren können, den sie schon lange im Kopf gehabt hat: einen „Double-Face-Teller“, der beidseitig benutzbar ist. Die Entwicklung war eine Herausforderung; die Stabilität, die erforderte höhere Tonmenge („vierzig Prozent mehr, als wenn der Teller nur eine Seite hätte“) hat sie erst ertüfteln müssen. Dazu ist die Erkenntnis gekommen, dass es für das Servicepersonal Kerben braucht, an denen man den Teller aufheben kann. Die schwarze Glasur auf der einen Seite, gleichsam das schwarze Gesicht, wurde mit dem Schwamm aufgetragen, die weiße auf der anderen Seite per Eingießen und Schwenken – Überschwappen sehr ­willkommen: „Ich mag es, wenn die Glasur auch auf der Rückseite Hallo sagt.“ Wobei es bei diesem Teller eben keine Rückseite gibt. Fabian Günzel hat von diesem Modell Nachschub bestellt, was technische Gründe hat: Der „Double-Face-Teller“ kommt in seinem Menü zweimal vor, einmal mit der weißen, einmal mit der schwarzen Seite oben. „Und nachdem der Ton so dick ist, kühlt er nach dem Waschen nach dem ersten Gang, Lammbauch mit grüner Mango mit Tamarindensauce, nicht rechtzeitig wieder aus, bevor wir ihn für das Dessert brauchen – Zuckermais, Kokos und Vanille.“ Es sei die Porosität ihres Tons, die bewirke, dass ihre Stücke träger auf Temperaturunterschiede reagieren, aber dann die Wärme oder auch Kälte weitaus länger halten als etwa dünnes Industrieporzellan, erklärt Petra Lindenbauer Fabian Günzel. Seine eigenwillige Geschirrfamilie lernt man als Koch immer wieder aufs Neue kennen.

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